Wiedergänger
Bereits am Abend sitzt Liv im Flieger nach Kopenhagen. Sie glaubt nicht mehr daran, ihren Großvater in Island finden zu können. Trotzdem: Ragnar hat versprochen, sich weiter umzuhören. Falls wider Erwarten eine Spur von Tönges oder Inga auftauchen sollte, wird er sich sofort melden. Obgleich ihre Reise ein Misserfolg war,fällt es ihr schwer, das Land zu verlassen. Sie lässt ihren Blick zum letzten Mal durch das Fenster über die karge Landschaft neben der Startbahn gleiten. Lava und Moos in Aderabendsonne, die Konturen des Gesteins gestochen scharf.
Sie hätte nicht herkommen sollen. Es war naiv von ihr, sich ausschließlich wegen eines in Island aufgegebenen Briefs, den sie nie mit eigenen Augen gesehen hat und dessen Inhalt und Absender sie nicht kennt, auf den Weg hierher zu machen. Das Gefühl von Niederlage ist überwältigend und weckt Erinnerungen an die schlimmen Wochen nach der Scheidung. Nur dass ihr Janko niemals so viel bedeutet hat wie ihr Großvater. Kaum haben sie die Reiseflughöhe erreicht, lässt sie sich einen Wodka Tonic bringen.
Angekommen im Terminal zwei des Flughafens Kastrup, sucht sie sofort nach dem Stand mit den Hot Dogs. Es ist Mittagszeit, die Schlange noch länger als bei der Hinreise. Liv stellt sich trotzdem an. Sie hat Hunger auf Zwiebeln. Ihr schwirrt der Kopf. Wenn sie zu schnelle Bewegungen macht, kommt ihr sofort das Frühstück hoch, das die isländische Fluggesellschaft zuvor serviert hat. Irgendein Brei, der entfernt an Rührei erinnerte.
Plötzlich ruft jemand ihren Namen. Liv blickt auf. Weiter vorn, fast schon am Tresen, steht ein Mann, der ihr bekannt vorkommt, und winkt theatralisch zu ihr herüber. Karottenfarbener Bart, Stoppelhaare, braungebranntes Gesicht: Geir Gunnarsson, der Fischexporteur. Ihre trinkfeste Icelandair-Bekanntschaft. Liv ist so erfreut, dass sie ihm glatt um den Hals fallen könnte.
»Ich bringe dir einen mit«, ruft er und hört immer noch nicht auf zu winken. »Mit allem?«
»Mit allem.« Liv winkt zurück.
Bald darauf sitzen sie nebeneinander an einer Bar mit Blick auf das Rollfeld. Draußen Regen. Drinnen Wodka. Sie haben nur eine halbe Stunde zusammen, bevor sein Flug nach Keflavík geht, und sie wollen nicht lange fackeln, sondern ohne Umschweife da weitermachen, wo sie in Island aufgehört haben.
»Und? Hast du gefunden, was du gesucht hast?«, erkundigt sich Geir gleich nach dem ersten Drink.
Liv schüttelt den Kopf und denkt an Rúnar, das Krachen des Eises auf dem Fjord, das silbrige Licht in Reykjavík nach Mitternacht. Diese Farben. »Im Gegenteil. Ich hab nur noch mehr verloren.«
»Scheiße«, sagt er, und mit seinem lispelnden Akzent klingt das zum Brüllen komisch.
Er wartet, bis sie fertig gelacht hat, und hebt dann sein Glas: »Komm, Liv, darauf trinken wir noch einen.« »Auf meinen Verlust?«
»Und auf meinen. Schlechte Geschäfte, kann ich dir sagen.« »Na dann: Prost.«
Sie trinken. Danach passiert etwas, das sie erneut in Gelächter ausbrechen lässt. Zwei Verspätungen werden ausgerufen, betroffen sind Livs Weiterflug nach Hamburg und Geirs Islandverbindung. Mindestens drei Stunden werden sie festsitzen. Zeit genug, um ihm ihr Leid zu klagen, und zwar in aller Ausführlichkeit, jetzt, da sie fast so etwas wie Freunde geworden sind. Ziemlich zum Schluss erwähnt sie, dass Rúnar Kantor der Hallgrimskirche ist.
Geir merkt auf. »Rúnar Jón Atlason?«
Nicht einmal seinen Nachnamen kennt sie, wie Liv erst jetzt bewusst wird. Trotzdem nickt sie.
»Den kenne ich vom Knabenchor. Später haben wir uns aus den Augen verloren.Aber Ostern war ich in der Kirche, da hab ich ihn spielen hören. Durchgeknallter Typ, das hört man sogar daran, was er mit Bach-Kantaten anstellt.«
Liv zuckt mit den Schultern.
»Du, ich finde, der passt zu dir.«
»Fand ich auch. Er weniger.«
»Idiot.« Geir seufzt und pickt mit dem Finger einen Zwiebelring auf, der vom Hot Dog liegengeblieben ist. »Hast du mit seiner Großmutter auch gesprochen?« Er lutscht an der Zwiebel.
»Wieso?«
»Na ja, weil sie auch aus Deutschland kommt. Die ist ziemlich hell in der Birne. Jedenfalls war sie das früher. Hat nie ein Konzert von uns versäumt.«
Liv ist wie vor den Kopf geschlagen, sie braucht eine Weile, um die Information zu verarbeiten.Ausgerechnet jetzt scheint der Alkohol seine volle Wirkung zu entfalten. Mit glühenden Wangen versucht sie, sich zu sammeln, während das Stimmengewirr in der Bar und das Plärren der Lautsprecherdurchsagen in ihren Ohren dröhnen. Dass Rúnar ihr seine deutsche Großmutter verschwiegen hat, lässt ihr die gesamte Begegnung mit ihm noch rätselhafter erscheinen, seine anfängliche Zuneigung und Hilfsbereitschaft, danach die Zurückweisung - es ergibt keinen Sinn.Automatisch, ohne zu kapieren, warum, erfindet sie für ihn eine Entschuldigung: »Jetzt ist sie nicht mehr hell in der Birne, seine Großmutter.«
»Ach so«, sagt Geir. »So ist das mit den grauen Zellen. Irgendwann lassen sie einen im Stich.«
Was sicher auch von Vorteil sein kann. »Komm, Geir, darauf trinken wir noch einen.«
Als die Seeschwalben in mächtigen Schwärmen auf die Südküste zufliegen, weiß Fritzi, dass der Kreis sich nun sehr bald schließen wird. Sie hört den Geländewagen von ferne und stellt sich in die Tür, von wo aus sie dem Bergtroll grimmig die Faust zeigt. Ja, sie erkennt diesen Augenblick wieder: Der veränderte Enkel ist eingetroffen. Er steigt aus, die Bewegungen langsam, als müsse er sich zu jedem Schritt zwingen, sein Winken wie zum Abschied, sie hat all das schon einmal gesehen, wie er auf sie zukommt, die ungewohnt schlechte Haltung: ein anderer Gang, ein anderer Mensch. Was fehlt, weil doch Teil der früheren Gegenwart: sein Begrüßungskuss auf die Wange. Davon, sie zu küssen, ist er weit, weit entfernt.
Stattdessen zwängt er sich stumm an seiner Großmutter vorbei ins Haus, die Lippen fest aufeinandergepresst.
»Da bist du ja wieder«, stellt sie fest, obwohl das nicht stimmt. Es ist nicht der Enkel, nur sein Schatten. Der Enkel kommt nicht mehr zurück.
»Es gibt nichts zu berichten«, sagt der Schatten. Sein Tonfall ist auf furchterregende Weise grimmig.
»Lass uns später reden.«
Sie kocht Kaffee, extra stark, öffnet die seit langer Zeit für ihn aufbewahrte Packung Haferkekse – er rührt nichts an, sondern sitzt reglos da, vornübergekrümmt, mit gesenktem Blick.
Fritzi verliert sich in Handgriffen, stellt keine Fragen, während sie ihn umsorgt wie stets, wenn er sie besucht. Das fällt ihr nicht leicht, aber mit Antworten ist im Moment ohnehin nicht zu rechnen.
»Es gibt nichts zu berichten«, wiederholt er.
»Hast du keinen Hunger?«
Kopfschütteln.
»Ich könnte uns auch etwas kochen.«
Der Vorschlag, fast flüsternd vorgebracht, reißt ihn aus der Lethargie. Er strafft sich und holt aus wie zum Schlag in ihr Gesicht, sie macht sich darauf gefasst und zuckt dann zusammen, als die flache Hand auf den Tisch saust. Es rummst, der Kaffee in den Tassen schwappt über, Gläser klirren im Schrank.
»Ich hab keinen Hunger, verdammt.«
Fritzi kann nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen.Sie steht auf und geht zum Fenster. Der Schatten soll nicht sehen, wie sie weint, nur das nicht.
»Amma mín ,du humpelst ja immer noch so schrecklich. Ich hab gehört, dass du krank warst, aber ich wusste doch nicht, wie schlimm es ist.« Das ist die Stimme des Enkels. Ein Aufbäumen. Sein Herz, das noch schlägt.
»Ach, diese verfluchten Kühe. Bösartig sind die, das sag ich dir, bösartig und dumm«, schimpft Fritzi.
»Du hättest sie nicht allein auf die Weide treiben sollen. Dafür bin ich da. Ich mach das gern für dich.«
»Du warst eben nicht da. Seit wann bist du überhaupt zurück in Island? Und warum hast du dich nicht gemeldet?«
»Es tut mir leid, Amma.«
Er stellt sich hinter sie, legt die Hände auf ihre Schultern, was das Weinen verstärkt, bis es außer Kontrolle gerät. Fritzi schluchzt, ringt um Fassung. Die Berührung verändert sich, verhärtet, sie spürt, wie seine Hilflosigkeit sich gegen sie richtet. Ein falsches Wort jetzt, und er wäre bereit, ihr die Luft abzudrücken.
Sie schweigt, bis der Schatten sich von ihr löst.
»Die Reise war ein Fehler. Du hättest das nicht von mir verlangen dürfen«, sagt er.
»Ich weiß.«
»Du hast nur gesagt, ihr habt als Kinder etwas Schlimmes getan, aber nicht, wie schlimm es war.Wie furchtbar. Du hättest mich warnen müssen.«
»Ich weiß«, wiederholt sie. Nur in Gedanken der Versuch, sich zu rechtfertigen: Sie hat ja nichts verlangt, bloß um einen Gefallen gebeten und dies sogleich bereut. Vor seiner Abreise. Er war nicht mehr aufzuhalten, taub für ihre Einwände. Sinnlos, ihn nun darauf hinzuweisen. Was auch immer in Deutschland vorgefallen ist – er gibt ihr die Schuld daran. Ein Satz, den sie mal irgendwo gelesen hat, fällt ihr ein: »Wer fortgeht, kehrt niemals zurück.« Jede weite Reise formt einen neuen Menschen. Das mag oft Gutes bewirken. Diesmal nicht.
»Hast du damals gedacht, du könntest alles vergessen, wenn du dich klammheimlich aus dem Staub machst, ohne Abschied? Weißt du eigentlich, wie sehr dein Bruder gelitten hat? Ich dachte, du hast ihn geliebt, er war doch dein Komplize, dein einziger Vertrauter. Tat es dir nicht wenigstens um ihn leid?«
»Sicher tat es mir leid. Und ich habe mir nie eingebildet, irgendetwas vergessen zu können.Alles, was ich wollte, war Abstand.«
Er schnaubt verächtlich. Des Enkels Schatten als Moralwächter, das eigene Gewissen schwarz wie eine Winternacht. Fritzi kennt das von sich, diese Bereitschaft, anderer Leute Handeln hart zu verurteilen, weil man sich selbst nicht mehr erträgt.
Sie schaut aus dem Fenster. Die See flach wie eine Glasplatte in Blau und Grün, irgendwo weit,weit weg am anderen Ufer die Heimat mit ihren Schrecken.
»Hast du keine Fragen?«, will der Enkel wissen.
»Doch. Darf ich sie jetzt stellen?«
»Nein, ich habe doch gesagt, es gibt nichts zu berichten.« Wieder wird er laut.
»Das nehme ich so hin. Bis du deine Meinung änderst.« »Werde ich nicht.«
Sie sucht seinen Blick, er meidet den ihren. Keinen Meter von ihr entfernt steht er auf demselben festen Holz und fällt ins Bodenlose. Sie sieht es und kann nichts dagegen tun. Unmöglich, ihn zu halten.
Aber es gibt etwas, das gesagt werden muss, dieses eine Mal darf sie die Gelegenheit nicht versäumen. Fritzi rafft all ihren Mut zusammen: »Ich liebe dich, Junge.«
Daheim in Lübeck stellt Liv fest, dass sie das Messer ihres Großvaters verloren hat, was ihr das Gefühl gibt, sich noch ein Stück weiter von ihm entfernt zu haben. Sie hat Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen, leidet ständig unter Atemnot, als wäre sie in einem Karton eingesperrt. Tagelang. Sie weiß nicht, woran es liegt, ob die isländische Weite ihr fehlt oder ob das Eingeständnis, mit ihrer Suche gescheitert zu sein, welches sie auf Nachfrage von Verwandten und Kollegen ständig wiederholen muss, ihr die Luft abzwängt.
Eine Woche vergeht, bis sie endlich Rúnar erreicht, um ihn wegen seiner Großmutter zur Rede zu stellen. Er ist keineswegs angetan, ihre Stimme zu hören, seine Antworten sind sogar noch patziger als ihre Fragen.
»Wie heißt deine Oma?«
»Fritzi Hartmann.«
»Wieso hast du mir nicht von ihr erzählt?« »Weil sie nicht diejenige ist, nach der du suchst.« »Das waren die anderen Frauen auch nicht. Ich hätte sie doch befragen können.«
»Genau das wollte ich vermeiden.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil sie schon lange keine Fragen mehr beantwortet.«
»Ist sie tot?«
»So etwas in der Art. Und jetzt lass mich zufrieden und vergiss endlich den ganzen Mist. Dein Großvater ist nicht hier. Du hast dich verrannt. Du musst endlich dein Leben weiterleben. Genau wie ich.« Damit legt er auf.
Unglaublich, wie sehr sie ihn vermisst. Sie findet, er hätte wenigstens so tun können, als ob sie ihm nicht völlig egal wäre. Entgegen ihrer guten Vorsätze, reinen Tisch zu machen, will Liv sich mit Max trösten, doch der hat keine Zeit für sie. Ein Wochenende verstreicht, ohne dass es ihr gelingt, sich zu sammeln und zu irgendetwas aufzuraffen. Stunden voller rastloser Langeweile, doch die vergeudete Zeit bedeutet ihr nichts. Sie ist allein. Die leere Wohnung macht ihr zu schaffen. Warum hat sie ihre Einsamkeit früher nie als solche empfunden?
Die nächste Abfuhr holt Liv sich nicht am Telefon, sondern persönlich ab:Als sie Aaron bei seinem Vater aufsucht, lässt der Junge sie nicht einmal ins Haus.
»Was willst du?« Er lehnt schlaff im Türrahmen, das Gesicht trotz sommerlichen Wetters blass und vor Feindseligkeit geradezu entstellt.
»Dich abholen. Wenn du magst.«
»Kannst du vergessen. Mit dir bin ich fertig.«
»Seit wann?«
»Seit Papa mir gesagt hat, dass du mich abtreiben wolltest.«
Janko, dieser Dreckskerl. Liv sieht ihn nicht,aber sie ist überzeugt, dass er im Hintergrund lauert,um jedes Wort mitzuhören, und sie hat nicht vor, sich das bieten zu lassen. Nicht von ihrem Ex.
Kommentarlos schiebt sie ihren Sohn zur Seite, und richtig, da steht Janko, wie üblich mit sich und der Welt im Reinen, und feixt, ausnahmsweise nicht im Anzug, sondern mit Jeans und T-Shirt bekleidet, darüber trägt er eine schwarze Küchenschürze, auf der in Orange geschrieben steht: »Frauen lieben Männer mit Kohle.« In der rechten Hand hält er eine Grillzange.
»Ach, hallo Liv«, sagt er, als wäre er gerade dazugekommen. »Schönen Urlaub gehabt? Soll ich dir eine Wurst mit auf den Grill legen?«
Später in der Nacht, als sie bei Festbeleuchtung in ihrem Bett liegt,an die Decke starrt, die Laken zerwühlt und darauf wartet, dass ihre Wut endlich verglüht, hat Liv keine exakte Erinnerung daran, auf welche Weise die Zange aus Jankos Hand in ihre gelangte. Wie sie diese zunächst in seinen Magen und anschließend noch in den Garderobenspiegel rammte, der sofort zerbarst, weiß sie hingegen ganz genau, weil sie dabei an Rúnars Weinglas denken musste und an die unendlich vielen Möglichkeiten für den Spiegel, kaputtzugehen.
Jankos Geschrei hallt immer noch in ihrem Kopf nach: Dass er sie anzeigen werde. Und dass sie krank sei. Unendlich krank. »Kraaaaaaaank!«
Rückkehr zur Normalität, das ist es, was man jetzt in der Firma von Liv erwartet, was vor allem sie selbst von sich erwartet.Aber wie? Jeder neue Tag erstreckt sich vor ihr wie eine Eiswüste, Regentage, Sommersonnentage, egal, die Islandkälte steckt ihr in den Knochen. Erfreulicherweise ist der Berg liegengebliebener Arbeit hoch genug, um sie bis Weihnachten unter sich zu begraben. Falls ihr nicht eine Anzeige ihres Exmannes dazwischenkommt.Anfangs rechnet sie stündlich mit dem Erscheinen der Polizei in ihrem Büro oder zu Hause, denn Jankos Drohung klang ernst, und sie hat sich ausgerechnet, was auf sie zukommen könnte: eine Verurteilung wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung, eventuell Hausfriedensbruch. Das würde sie automatisch die Sprengberechtigung kosten, in der Folge müsste sie ihren Beruf an den Nagel hängen, und ihr bliebe nur noch die gleiche Perspektive wie Tönges: sich auf Nimmerwiedersehen davonzustehlen.
Doch die Polizei kommt nicht und schickt auch keine Briefe, und ganz allmählich gelingt es Liv,sich ein wenig zu entspannen.Anscheinend hat Janko es sich anders überlegt. Vermutlich aus Scham. Denn welches Weichei lässt sich schon von einer Frau eine Grillzange in den Magen rammen? Nicht, dass sie stolz darauf wäre. Na ja, jedenfalls nicht sehr.Aber sie findet Gefallen an der Gewissheit, dass ihr Großvater stolz auf sie wäre.
Juni, Juli, August. Wochen reihen sich aneinander, und Liv ist wieder im Trott: viele Aufträge, oft auswärts, gute Umsätze. Wenn sich Freizeit nicht vermeiden lässt, verbringt sie diese im Schrebergarten, hin und wieder quartiert sie sich dort sogar ein.Je wärmer und sternenklarer die Nacht ist, desto leichter fällt es ihr, sich vorzustellen,dass ihr Großvater irgendwo dort draußen mit dem Fahrrad unterwegs ist und seine Freiheit genießt. Das ist es, was sie glauben will. Für alles andere fehlt ihr die Kraft.
Da ihr Geburtstag bevorsteht, fragt Volker, ob sie von den Kollegen lieber einen Tanzkurs oder ein Segelwochenende geschenkt bekommen möchte, sie seien zur Ansicht gelangt, Liv müsse dringend mal unter die Leute. Sie verspricht, jeden zu entlassen, der ihren Geburtstag auch nur erwähnt, da sie in diesem Jahr nichts, aber auch gar nichts davon wissen will.Als es so weit ist, steht trotzdem ein Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch.An der Vase lehnt eine Karte, auf der alle unterschrieben haben, darin ein Gutschein vom benachbarten Baumarkt.
»Ihr traut euch was«, sagt sie zu Volker. »Die haben eine riesige Pflanzenabteilung. Wir dachten, vielleicht brauchst du was für den Garten.«
»Ja, eine Schubkarre. Tönges' alte ist durchgerostet.« »Soll das heißen, du freust dich?«
Das tut sie tatsächlich, behält es aber für sich. Vielleicht sollte sie die Belegschaft mal in den Garten einladen. Zum Grillen.
Der Tag ist der beste seit langem. Sogar Max ruft an, um zu gratulieren, und sie verabreden, sich bald mal zu verabreden. Ihnen steht keine große gemeinsame Zukunft bevor, dessen sind sie sich beide bewusst, aber sie wollen dennoch gelegentlich etwas miteinander unternehmen. Er ist kein schlechter Kerl.
Aus Zufriedenheit wird Glück, als abends nach neun Aaron vor der Wohnungstür steht, mit Reisetasche und Blumen von der Tankstelle.
»Happy Birthday. Du willst doch, dass ich wieder bei dir einziehe?«
Und wie. So sehr, dass sie vor Freude und Dankbarkeit auf die Knie gehen könnte. Sie schätzt, es wäre der richtige Zeitpunkt, ihren Sohn in die Arme zu nehmen, aber das traut sie sich nicht, stattdessen kann sie nur stumm nicken und nach dem Blumenstrauß greifen. Zu ihrem großen Glück macht er den ersten Schritt. Hinterher sind die Tankstellenrosen in der Klarsichtfolie ziemlich hinüber.
Was für ein prächtiger Junge.
Von wem er das nur hat?
Die letzten Glückwünsche erreichen Liv mit zweitägiger Verspätung per SMS: »Alles Gute nachträglich zum Geburtstag. Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein kann, aber hier, wo ich bin, geht es mir gut, das sollst du wissen.«
Die Mitteilung kommt von Tönges. Liv starrt auf das Display, wo die unpersönlichen Worte vor ihren Augen zu einem grauen Knäuel verschwimmen und schließlich schwarz werden, weil die Beleuchtung sich ausschaltet, und als sie vom Schreibtisch aufsteht, fühlt sie sich auf einen Schlag betrunken. Bevor sie auf die Toilette rennen kann, muss sie sich übergeben, schafft es dabei gerade noch, nicht den Schreibtisch, sondern hauptsächlich in den Papierkorb zu treffen, etwas landet daneben auf dem Boden. Weil sich alles um sie herum dreht und ihre Beine wie aus Teig sind, legt sie sich danach in ihrem Büro auf die Couch, ohne das Malheur zu beseitigen, und wählt Tönges' Handynummer. Das Gerät ist abgeschaltet. Sie probiert es mehrmals, schreibt selbst eine SMS, wählt noch mal, während ihr Tränen über das Gesicht, den Hals und in den Nacken laufen. Die Gefühle, die jetzt auf sie einstürzen, sind schwer auseinanderzuhalten: Erleichterung? Zorn? Hilflosigkeit? Es könnte auch Hass sein.
In dieser Verfassung bekommt sie Besuch von der Polizei. Es sind zwei Beamte, aber sie kennt nur einen der beiden: den aus dem Schrebergarten. Sie hätten furchtbare Neuigkeiten, eröffnet er, um dann innezuhalten und geräuschvoll durch die Nase einzuatmen, den Blick zum Schreibtisch gewandt, wo der Papierkorb steht.
»Entschuldigung«, sagt sie unter Schluchzen. »Ich muss das wegwischen.«
Obwohl sie sich vor den Polizisten schämt, ist Liv weiterhin nicht in der Lage, aufzustehen und sie in einen anderen Raum zu führen.
»Brauchen Sie einen Arzt?«
Sie schüttelt den Kopf.
Es spricht immer nur der eine, der andere hält sich in der Nähe der Tür auf, als befürchte er, sie könne versuchen, vor der furchtbaren Nachricht davonzulaufen.
»Sie wissen es schon?«
»Ich weiß gar nichts«, sagt Liv.
Dem Beamten ist anzumerken, dass er die Sache hinter sich bringen möchte. »Ihr Großvater wurde heute Morgen auf dem ehemaligen Firmengelände der Lübecker Metallhüttenwerke tot aufgefunden. Wie es aussieht, lag er die ganze Zeit unter den Trümmern der Fabrik.«
Plötzlich kann sie aufstehen. Liv schießt aus dem Sofa hoch und beginnt, im Raum auf und ab zu gehen. Beide Handballen gegen die Schläfen gepresst, stampft sie zwischen Couch und Schreibtisch hin und her, ihr Atem kommt stoßweise. »Wenn das stimmt«, bringt sie hervor, »verstehe ich nicht, wieso er mir heute eine SMS geschickt hat, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.«
Livs Hoffnung, der Tote unter den Trümmern könnte jemand anderes sein, erfüllt sich nicht. Tönges lebt nicht mehr, er wurde erschlagen. Das steht bei der Beerdigung längst fest. Vielleicht werden in den Grabreden deswegen so viele Lügen über ihn verbreitet. Was für ein liebenswürdiger und herzensguter Ehemann, Vater und Großvater er gewesen sei, stets um das Wohl der Familie besorgt. Zudem ein verantwortungsvoller Unternehmer und Bürger der Stadt Lübeck, ein verdientes Mitglied der Gesellschaft. Das jedenfalls stimmt.Dabei hätte man es bewenden lassen können.Außer Liv scheint es jedoch niemanden aus der Familie zu stören, dass er nachträglich zum Heiligen erklärt wird. Da Ermittler der Kripo anwesend sind, scheinen die anderen ohnehin in erster Linie darauf bedacht, einen unverdächtigen Eindruck zu hinterlassen. Henny, eben noch mit der Organisation ihrer Scheidung beschäftigt, gibt die trauernde Witwe in Vollendung, wobei das regnerische Wetter der Inszenierung zupasskommt. Ihren neuen Freund hat sie nicht mitgebracht.
Liv ist weit davon entfernt, sich auf irgendeine Weise zu verstellen, sie hat das Gefühl, immer noch unter Schock zu stehen. Es würde auch nichts nützen,die Polizei hat sie sowieso bereits im Visier. Immer an ihrer Seite:Aaron und Max, ohne die Liv die vergangenen Tage sicher niemals durchgestanden hätte. Selbst jetzt rechnet sie damit, jeden Augenblick tot umzufallen. Eine Art Wunschdenken vermutlich, denn dann hätten endlich die Selbstvorwürfe ein Ende, mit denen sie sich quält: Sie hätte Tönges finden müssen, die Fabrik war ihr anvertraut worden, sie hat vor der Sprengung das gesamte Gebäude kontrolliert. Zu diesem Zeitpunkt lag Tönges bereits mit eingeschlagenem Schädel tot unter dem Gerümpel im Keller, welches sie nicht genauer untersucht hat. Retten können hätte sie ihn also keinesfalls, das ist ein Trost. Dennoch wünscht sie – auch um ihrer selbst willen –, sie hätte ihn damals entdeckt und sich damit nicht nur die Ungewissheit und die vergebliche Suche in Island erspart, sondern auch die Demütigung, heute zum Kreis der Verdächtigen zu zählen, nur weil sie sich auf der Baustelle auskennt. Die Kripo begegnet ihr mit Misstrauen. Liv wurde schon mehrfach verhört, außerdem hat sie sich freiwillig auf eine Durchsuchung ihrer Wohnung eingelassen. Gefunden hat man natürlich nichts.
Nach der Beisetzung tritt ein Kripofatzke an sie heran, ein magerer Blousonträger mit Mundgeruch. »Wir haben gehört, Sie waren kürzlich in Island?«
»Ja. Und?«
»Wir haben die Mobilfunkdaten überprüft. Die Geburtstagsgrüße, die auf Ihrem Handy eingegangen sind, wurden aus Reykjavík verschickt. Können Sie sich das erklären?«
»Nein«, sagt Liv wahrheitsgemäß, während es in ihr brodelt, weil sie sich mit Macht dagegen stemmt, etwas zu erfassen, das sie schon länger ahnt, aber nicht wirklich begreift. »Sie verschweigen uns doch etwas.«
»Das hier ist eine Trauerfeier. Haben Sie denn vor nichts Respekt?«
Liv will Zeit gewinnen, und ihr Plan geht auf.
»Kommen Sie morgen um acht Uhr früh ins Präsidium«, sagt der Polizist.
Liv verspricht es bereitwillig und kann ihre Erleichterung kaum verbergen. Sie weiß, morgen früh wird sie fort sein: Gleich nach dem Leichenschmaus ins Auto,aufpassen, dass niemand ihr folgt, rauf nach Fehmarn, auf die Fähre Puttgar-den-R0dby, weiter nach Kopenhagen und von dort ins erste Flugzeug nach Island.
Tatsächlich gelingt es Liv, sich unbemerkt aus dem Land zu stehlen. Als ihr Handy zum ersten Mal klingelt, befindet sie sich bereits in Kastrup beim Check-In. Mit klopfendem Herzen schaut sie aufs Display. Es
ist nicht die Polizei, sondern ein Anruf aus Reykjavík. Ragnar, der Elfenbeauftragte, hat offenbar Neuigkeiten für sie.
»Hey, wo steckst du gerade?«, fragt er, als seien sie die besten Freunde.
»Auf dem Weg zu euch.«
»Das ist gut, denn mein Großvater hat auf einer deiner Zeichnungen Inga wiedererkannt. Er hat sie damals auf der Esja gesehen – und sich gleich in sie verknallt. Verrückt, oder?«
»Ja, verrückt. Weiß er, was aus ihr geworden ist?«
»Das nicht,aber er hat sich an den Namen erinnert, unter dem sie eingereist ist. So ein ungewöhnlicher Name, den hat er nie mehr vergessen können.«
»Wie lautet er?«, fragt Liv, obwohl sie sicher ist, die Antwort zu kennen. Sie täuscht sich nicht.
»Fritzi Hartmann«, sagt Ragnar triumphierend, und der Kreis beginnt sich zu schließen.
Ankunft in Keflavík an einem sonnigen Vormittag. Entlang der Rollbahn ein Meer von Lupinen. Beim Anblick der lavendelfarbenen Blüten wird Liv für einen Moment von der Trauer um ihren Großvater übermannt, und sie verlässt ihren Fensterplatz im Flugzeug erst, nachdem die Flugbegleiterin sie mehrfach dazu aufgefordert hat.
Fritzi Hartmann lebt in Südisland, nicht weit von der Hauptstadt entfernt, in einer Gemeinde namens Krýsuvík. Inzwischen wieder einigermaßen gefasst, mietet Liv in Keflavík einen Wagen und fährt direkt dorthin. Laut Ragnar heißt der Hof Bjarg und liegt an der Küste. Ursprünglich wollte sie zuerst in die Hallgrimskirche, um Rúnar zur Rede zu stellen, aber da sie fürchtet, er würde alles tun, um ihren Besuch bei Fritzi Hartmann alias Inga Engel zu verhindern, hat sie es sich anders überlegt. Diesmal ist sie überzeugt, die richtige Deutsche gefunden zu haben: Tönges' Schwester. Warum der Enkel der alten Frau so vehement gegen die Begegnung ist, kann sie nur ahnen, noch fehlen die letzten Bestandteile des Puzzles, aber sie weiß, bald wird sie Gewissheit haben.
Die Strecke ist keine Herausforderung. Vom Flughafen aus dürfte Liv keine Stunde unterwegs sein. Unfassbar, dass Rúnar sie bis in die Westfjorde hat fahren lassen.Aus Erbitterung schlägt sie mit der linken Faust so lange gegen die Fensterscheibe, bis sich im Glas ein feiner Riss abzeichnet.
Schneller, als ihr lieb ist, bevor sie sich überlegen kann, wie sie mit der Alten ins Gespräch kommen soll, erreicht Liv ihr Ziel. Ein blaues Haus am Rand eines scharfkantigen Lavafeldes, dahinter das Meer, sattgrüne Wiesen, vermooste Berge, so sieht Ingas selbst gewählte Verbannung aus.An einem Fahnenmast flattert eine zerfetzte isländische Fahne im Wind: rot, weiß, blau. Warum nur hat diese Frau einst alle Brücken hinter sich abgebrochen?
Liv würde am liebsten noch eine Weile reglos sitzen bleiben, aber sie zwingt sich auszusteigen und ihre wachsende Nervosität zu ignorieren. Das helle Licht im Freien lässt sie blinzeln, ganz in der Nähe klatschen Wellen an einen Strand, der von hier aus nicht zu sehen ist. Das Geräusch beruhigt sie ein wenig. Hoch über dem Wasser schweben Vögel durch die Luft. Neben ihr im Gras ist eine Möwe gelandet, die sie ohne ersichtlichen Grund aufscheucht. »Mistvieh, hau ab.«
Ein leichter Schwefelgeruch durchsiebt die Meeresbrise.
Erst jetzt bemerkt sie Rúnars Jeep, der neben einem Schuppen parkt.
»Verdammt.«
Schon geht die Haustür auf, und er stapft auf sie zu. Liv bekommt sofort weiche Knie und hat trotz ihrer Wut auf ihn idiotischerweise das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen. Um sich keine Blöße zu geben, will sie grußlos an ihm vorbei. Er schneidet ihr den Weg ab.
»Was willst du hier?«
»Fritzi Hartmann besuchen.«
»Die lebt nicht mehr hier.«
»Da habe ich aber etwas anderes gehört.«
Er hält sie am Handgelenk fest. »Ich muss es ja wohl wissen.«
»Lass mich los.«
Keine Reaktion. Rúnar hat Liv in der Gewalt, zieht sie wortlos hinter sich her, die Auffahrt hinauf, über die Schotterstraße und einen steil ansteigenden Trampelpfad entlang in die Berge. Sein Atem geht keuchend. Livs Versuche, sich mit Tritten und Bissen zu befreien, haben etwas Lächerliches und bringen ihn nur dazu, ihr Handgelenk noch fester zu umklammern. Die Finger fühlen sich bereits taub an. Die andere Hand schmerzt, weil sie damit im Auto ja unbedingt auf die Fensterscheibe einschlagen musste. Sie fragt sich, wie ernst die Situation für sie ist, und kommt zu keinem Ergebnis. Große Angst hat sie keine, obwohl die Landschaft um sie herum immer unwirtlicher wird, je weiter sie vorankommen. Trotzdem, es ist immer noch Rúnar, sie kennt ihn. Was sollte er ihr tun? Liv hört auf, sich zu wehren, aber Rúnar lässt sie nicht los. Möwengeschrei wie Hohngelächter. Links und rechts des Weges steigt Dampf aus dem Boden auf, und der Schwefelgehalt in der Luft nimmt zu.
Schließlich hat er Liv offenbar dort, wo er sie haben will: Inmitten von Moosen und Flechten in Hellgelb, Pink und sattem Grün faucht und blubbert es aus dem Boden. Zwischen bräunlichen, silbernen und ockerfarbenen Krusten verbreitet kochender Schlamm aus Wasser und Vulkanasche unsäglichen Fäulnisgestank. Sie halten inne und schauen sich um. Die Hölle ist bunt.
Klaviermusik. Wie Tönges gespielt hat: laut, nicht sonderlich rhythmisch, leidenschaftlich. Sie hat auf diese Weise niemanden spielen hören, seit sie ausgebombt wurden und für ihren Bruder kein Instrument mehr zur Verfügung stand. Jetzt, da er tot ist, kann er sich auf ihrem Klavier austoben, tagein, tagaus, er wird in ihrem Haus jederzeit willkommen sein.
Während sie am Fenster steht und zusieht, wie der Enkel die Frau aus Deutschland in die Berge führt, lauscht sie hingerissen.Ein Lied aus den Dreißigern: Duke Ellington, »It don't mean a thing if you ain't got that swing.« Leise summt sie mit und bemüht sich zu begreifen, was der Junge ihr soeben unter Tränen gestanden hat.
Anfangs war Tönges Feuer und Flamme. Ja, natürlich wollte er mit nach Island kommen, um sie, seine Schwester, endlich, endlich wiederzusehen, nichts lieber als das, und er packte sofort seine Tasche und wollte los. Nur einmal noch auf einer Baustelle nach dem Rechten sehen, wo demnächst eine große Sprengung bevorstand, das war ihm wichtig.Ausgerechnet dort kam es zum Streit. Rúnars Fehler: Er hat gewagt, Tönges auf jenes dunkle Geheimnis anzusprechen, das Fritzi mit ihm teilt. Dass sie plante, das Schweigen ein für alle Mal zu brechen, war nicht in Tönges' Sinn.
Es kostet Fritzi nicht viel Phantasie, vor sich zu sehen, wie ihr Bruder im Keller eines Fabrikgebäudes die Beherrschung verliert und sich auf den Enkel stürzt.
»Ich lasse mich nicht als Vatermörder in den Knast sperren. Ich nicht«, soll er geschrien haben. Dass der Jüngere, mit der Situation völlig überfordert, als Sieger aus dem Handgemenge hervorging, ist keine Überraschung. Tönges hatte Pech, ist unglücklich mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, sein Tod im Grunde Notwehr. Lediglich die Reaktion des Enkels, ihn dort unter dem Gerümpel zu begraben, Spuren zu verwischen, sein Fahrrad verschwinden zu lassen, macht aus der Tragödie ein weiteres Verbrechen in der schaurigen Geschichte ihrer Familie. Sie ahnt es schon lange, es war der zweite große Fehler ihres Lebens, den Enkel nach Deutschland zu schicken, um Tönges zu ihr zu holen. Sie hätte selbst fahren sollen. Sie feiges, dummes Ding.
Der Junge und die Deutsche sind nicht mehr zu sehen, Fritzi weiß, er steuert auf die heißen Quellen zu, und sie betet, obwohl sie an Gott am allerwenigsten glaubt, er möge jetzt keine weitere Dummheit begehen. Sie sollte Hilfe holen.Aber wen? Sie kann doch den Enkel nicht der Polizei ausliefern. Zumal sein Schicksal ohnehin besiegelt ist, denn mittags beim Essen hat sie ihn nackt gesehen, und Finna hat sie vor vielen Jahren gelehrt, was diese Vision zu bedeuten hat: Ihm bleibt höchstens noch ein Jahr zum Leben. Es könnte aber auch weniger sein.
Überall Dampf. Vor einem Schlammtopf mit blaugrau gluckerndem Innenleben gibt Rúnar endlich ihr Handgelenk frei. »Du wirst doch nicht weglaufen?«, fragt er. »Die Erdkruste hier ist dünn wie ein
Haferkeks, es gibt überall Hohlräume, die mit Gas gefüllt sind. Man muss sich schon auskennen. Die Gase sind bis zu achthundert Grad heiß. Wenn du da hineingerätst, war es das.«
Liv bleibt stehen und rührt sich nicht, vom Gestank ohnehin reichlich benommen. Sie fragt sich,was er hier will. Sie umbringen? Warum?
»Ich habe ein paar Fragen«, sagt er.
Liv lacht auf. »Du hast Fragen? Du? Du bist mir erst mal eine Million Antworten schuldig.« »Dir schulde ich gar nichts.« »Und ob, du Arschloch.«
Sie stehen Auge in Auge. Rúnar sieht verweint aus, aber bestimmt nicht ihretwegen, seine Miene ist frostig. »Also gut, du zuerst«, sagt er.
»Mein Großvater ist tot.«
Er nickt. »Ist kein Geheimnis mehr, ich hab's im Internet gelesen: Lübecker Nachrichten online. Sag, wie konnten sie ihn finden unter all den Trümmern? Ich dachte, da bleibt nichts ganz.«
»Im Keller schon«, antwortet Liv automatisch. »Wenn ein Gebäude ab Erdgeschoss gesprengt wird, bleibt die Kellerdecke meistens erhalten. Alles, was sich darunter befindet, kommt irgendwann wieder ans Tageslicht, sobald die Aufräumarbeiten in die letzte Phase gehen, kurz bevor die Ausschachtungen für eine neue Baugrube beginnen.«
»Wie lange dauert so etwas?«
»Kommt darauf an, wie schnell die Planungen für die Weiternutzung des Geländes voranschreiten.«
»Ach so. Und ich war sicher, man findet ihn nie. Höchstens ein paar Überreste«, sagt Rúnar, und ganz allmählich dämmert ihr die Bedeutung seiner Bemerkungen. Nicht, dass sie die Wahrheit nicht schon vorher geahnt hätte. Doch die endgültige Bestätigung lässt sie dem Mann, in den sie sich erst vor kurzem so vorbehaltlos verliebt hat, ihre ganze Verachtung entgegen schreien.
»Du hast ihn umgebracht!«
Die Anklage lässt ihn nicht kalt, das ist deutlich. Liv beobachtet, wie seine Haltung sich verändert, er sackt regelrecht zusammen, die Muskeln schlaff, als würde er nur noch von seinem Skelett aufrecht gehalten.
»Es war Notwehr. Und er ist als Erster auf mich losgegangen, nicht umgekehrt. Da bin ich eben ausgerastet. Liv, bitte, schau mich nicht so an. Hör mir zu.Du weißt doch, wie das ist.«
Und ob sie das weiß, es kann ihr jederzeit und überall passieren. Sowie jetzt und hier. Ohne Vorwarnung greift sie Runar an, rammt ihm ihr Knie zwischen die Beine und setzt ihm mit Faustschlägen ins Gesicht so sehr zu, dass er ein Messer hervorzieht, ihr Messer, wie sie sofort erkennt, das Laguiole von Tönges. Er muss es ihr geklaut haben. »Das ist meins.«
Sie ringen miteinander. Er will auf sie einstechen, trifft die Schulter.Ein stechender Schmerz.Als sie registriert, dass die Waffe in ihrem Fleisch steckengeblieben ist, zieht Liv sie raus und versucht, mit der Klinge seine Kehle zu erreichen. Es gelingt ihr nicht, noch nicht.Aber sie spürt, der Kampf ist entschieden.Aufgeputscht durch einen Adrenalinstoß, hat sie keinen Zweifel mehr an ihrer Fähigkeit, einen Menschen zu töten, kann es sogar kaum erwarten, Rúnar, den Mörder, unter diesem stahlblauen Himmel sterben zu sehen. Das blendende Licht und die Wärme der Sonne auf ihrer Haut versetzen sie in einen beinahe euphorischen Zustand. Rache für Tönges. Sie muss nur noch durchhalten, bis Rúnar einen Fehler macht.
Plötzlich weicht er vor Liv zurück.
»Tu dir das nicht an«, sagt er mit einem Kopfschütteln, dreht sich um, will flüchten. Die keksdünne Kruste, vor der er sie zuvor noch gewarnt hat, ächzt und bricht unter seinem Gewicht unter lautem Krachen zusammen.Achthundert Grad heiße Gase steigen auf, umhüllen Rúnar und seine Schreie, als der Erdboden ihn schließlich verschluckt.
Der Geist am Klavier trägt einen braunen Mantel. Fritzi gewahrt es, und zum ersten Mal, seit sie auf Bjarg lebt, sucht sie bei einem Spuk des Móri nicht das Weite, sondern stellt sich dem Braunen. Sie hat das
Fortlaufen satt.
»Weg vom Klavier.«
Der Geist dreht sich zu ihr um, ohne mit dem Spielen aufzuhören. Inzwischen ist er bei Bach angelangt.
Der Anblick seines Gesichts lässt sie zusammenfahren. »Du bist das?«, sagt sie, und ihr Vater grinst, wie er immer schon gegrinst hat, wenn er sich anschickte, seine Kinder oder seine Frau zu quälen.
»Wen hast du denn erwartet?«
Bachs Toccata in d-Moll perlt durch das Wohnzimmer. »Warst du es die ganze Zeit?«
»Natürlich war ich es. Eurem Hausgespenst ist über die Jahrhunderte die Puste ausgegangen, da habe ich ihm ein wenig unter die Arme gegriffen. Hast du ehrlich geglaubt, du könntest mich auslöschen? Mich? Deinen eigenen Vater?«
»Nein.«
Eine Lawine aus vertrauten und neuen Gefühlen reißt Fritzi mit sich fort: die alte Angst, der alte Zorn, neue und alte Hilflosigkeit und die Bitterkeit der Erkenntnis, noch viel mehr Schuld auf sich geladen zu haben als die, von der sie die ganze Zeit wusste. Sie hat ihre eigenen Geister mit nach Bjarg gebracht und so dafür gesorgt, dass der Fluch des Móri vollendet wurde.
Sie ist schuld an allem.
Und weil niemand so viel Last tragen kann, erwartet sie ihren endgültigen Zusammenbruch, was sonst sollte jetzt noch kommen? Sie wartet und wartet und nichts passiert. Ihr Herz schlägt weiter, sie fällt nicht in Ohnmacht, und der Dämon springt ihr nicht an die Gurgel, um sie zu erwürgen. Ewigkeiten verstreichen in Sekundenschnelle.Auf einen Schlag fühlt Fritzi sich leicht, und sie begreift, was zu tun ist: Ihr Vater ist tot, der Mann am Klavier nur eine Erscheinung.
Atmosphärisch aufgeladene Luft. Und Luft kann ihr nichts. Jetzt nicht mehr.
Also nimmt sie selbst auf dem Klavierhocker Platz, genau dort, wo er sitzt, und greift durch ihn hindurch, beginnt zu spielen, zögerlich anfangs, weil sie aus der Übung ist, aber Melken und Klavierspielen verlernt man nicht. Ein Kuddelmuddel von Dissonanzen. Die Hände des Vaters neben ihren auf den Tasten, konkurrierend um die Herrschaft über die Töne.Am Ende hört sie nur noch das eigene Spiel, das Lied ihrer Ankunft in der Bucht von Reykjavík, und für einen Moment sieht sie wieder den jungen Isländer Ragnar vor sich, wie er ihr von seinem Boot aus zuwinkt, während sie an Bord der Esja steht.
Dann neue Störgeräusche: Das Hämmern von Rotorblättern, näher kommend. Fritzi steht auf und schleppt sich mit dem langsamen Gang, zu dem sie seit der Verletzung ihrer Hüfte gezwungen ist, erneut ans Fenster. Der Helikopter der Küstenwacht steht in der Luft über den heißen Quellen von Bjarg. An seinem Rettungsseil hängt ein Mensch.
Er hätte es schaffen können.Auch ein Jahr nach Rúnars Begräbnis hat Liv noch immer nicht ihren Frieden damit gemacht, dass er nicht mehr lebt, dass er einen genauso nutzlosen Tod sterben musste wie Tönges, sein Opfer.Auch wenn mehr als siebzig Prozent der Hautoberfläche verbrannt sind, wie es bei Rúnar der Fall war, besteht heutzutage eine fünfzig-prozentige Überlebenschance. Fifty-fifty. Er hat sich für die andere Seite entschieden, ganz sicher, es war eine Entscheidung. Mögen die Ärzte es auch Verbrennungskrankheit nennen, Zerstörung der Immunabwehr, Wundnekrosen, Nieren-versagen, fulminante Sepsis mit dem Zusammenbruch aller Organe.
Sieben Tage zog Rúnars Sterben sich hin, und in dieser Zeit hat er reinen Tisch gemacht, nicht nur, indem er einem Beamten der isländischen Polizei am Krankenbett die genauen Umstände von Tönges' Tod schilderte,er hat auch Liv alles gebeichtet, was es zu beichten gab. So gut wie gar nichts an ihrer Begegnung war echt. Rúnar hat sie bereits in Lübeck bei der Sprengung beobachtet, er war derjenige, den sie Wochen später nachts auf der Baustelle überrascht hat.Als sie, wie es alle Fremden in Island irgendwann tun, die Hallgrimskirche betrat, hat er Liv sofort wiedererkannt und fortan nur noch eines im Sinn gehabt: sie so schnell und unauffällig wie möglich aus dem Weg zu räumen, damit sein Geheimnis niemals ans Licht kommen möge. Für die Fahrt in die Westfjorde hat er ihr sogar Betäubungsmittel in den Kaffee geschüttet, in der Hoffnung, sie würde verunglücken. Was sie ja auch ist.
All das hätte Liv ihm vergeben können, das Verbrechen an Tönges nicht. Einen alten Mann totschlagen und ihn anschließend verscharren wie eine überfahrene Ratte – wie er dazu fähig war, wird sie nie begreifen können. Ebenso wenig wie sie kapiert, warum sie sich die Fürsorge für Fritzi Hartmann alias Inga Engel aufgehalst hat, einer Vatermörderin, wie Liv inzwischen weiß. Ursprünglich wollte sie die Alte anzeigen. Warum sie Tönges' Schwester stattdessen einlud, mit ihr nach Deutschland zu kommen, um das Grab ihres Bruders zu besuchen, ist ihr bis heute ein Rätsel. Vielleicht, weil sie ansonsten automatisch auch den Großvater verraten hätte.
Jedenfalls ist für Fritzi, wie sie weiterhin genannt werden will, die Rückkehr nach Island ausgeschlossen, da wegen der falschen Namensangabe bei der Einwanderung ihre Staatsbürgerschaft verfallen ist. Liv hat ihr gesagt, sie könne in der Kate auf Fehmarn wohnen bleiben, solange es ihr beliebt. Schließlich sei es irgendwie auch ihr Haus.
So hat sie wenigstens einen Grund, am Wochenende dort öfter mal gemeinsam mit Aaron nach dem Rechten zu sehen. Weil ihre Hüfte kaputt ist und sie partout keine neue mehr will, braucht Fritzi Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen. Liv hat das für sie organisiert. Und solange es den Frauen von der Tagespflege gelingt, sich glaubhaft als Elfen vorzustellen, haben sie kaum etwas auszustehen.